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Kirchtürme

Abt Peter von Sury, Kloster Mariastein

Wenn von Kirchtürmen die Rede ist, werden Erinnerungen wach, Erinnerungen an meine Kindheit, die ich in Solothurn erlebte, dem Städtchen am blauen Aarestrand.
Ganz richtig heisst es im «Solothurner Lied»: «Es gugget dr Sant-Urse-Turm wiit uuse übers Land - s'isch immer so gsi...» Der St. Ursen-Turm! Das war und ist für mich «der Kirchturm» schlechthin. Für uns Kinder war es etwas vom Eindrücklichsten, zur Turmterrasse hinaufzusteigen, zuerst durch einen engen Einstieg, dann den mächtigen Innenwänden des Turmes entlang, empor in den gewaltigen Glockenstuhl. Wehe und Wonne zugleich, wenn ausgerechnet jetzt die Glocken sich zu schwingen begannen und das ohrenbetäubende Geläut einsetzte! Weiter gings eine Wendeltreppe hoch, die hinauf zur Turmstube führte. Dort war, wie wir uns in der Heimatkunde belehren liessen, in früheren Zeiten der Turmwächter untergebracht. Er hatte mit der Sturmglocke Alarm zu schlagen, falls irgendwo aus den verwinkelten Gassen, Häusern und Dächern ein verdächtiger Rauch oder sogar Flammen aufstiegen. Das hat sich geändert. Gleich geblieben ist die Faszination des Rundblicks, den man von der Turmterrasse aus geniesst, aus der Vogelschau in die vier Himmelsrichtungen zu schweifen, oder auch übers Geländer hinunterzublicken, wo die Leute unten auf Erden klein wie Ameisen wirkten.

Wer mit dem Tram durchs Leimental fährt und sich nach Kirchtürmen umschaut, entdeckt eine grosse Vielfalt. In den verschiedensten Varianten und Formen gucken sie da und dort hervor. Die einen muss man suchen, andere stechen markant hervor, die einen sind typische Kirchtürme, bei anderen ist die Einordnung nicht so eindeutig. Den einen sieht man ihr ehrwürdiges Alter an, da sie Elemente aus vergangenen Stilepochen bewahrt haben, andere hingegen sind historisch und kunstgeschichtlich schwieriger zu bestimmen. Die Architekturgeschichte klärt uns über Einzelheiten auf, so etwa über die Bedeutung der sogenannten «Wasserschläge». Wissenswertes ist auch zu erfahren über die von der reformierten Kirche des Kantons Zürich eingerichtete Webseite: www.zh-kirchenspots.

Ursprünglich gehörte es zu den Regeln des Kirchenbaus, dass das Gotteshaus geostet war, das heisst, der Chor mit dem Altar befand sich auf der Ostseite. Die Gottesdienstversammlung sollte nämlich der aufgehenden Sonne entgegenschauen, dem eindrücklichen Symbol des auferstandenen Heilandes. Der Chorscheitelturm steht in der Längsachse der Kirche, und zwar im Osten wie in Ettingen, oder er erhebt sich über dem Eingang auf der Westseite wie in Leymen oder in Wolschwiller. Übrigens steht hier, ganz hinten im Leimental, die einzige Kirche, die des Nachts von Scheinwerfern ins rechte Licht gerückt wird. Der Chorturm hingegen ist seitlich versetzt eingefügt in die Baufuge zwischen Chor und Schiff. Wir begegnen ihm zum Beispiel in Oberwil, Benken, Biederthal, Hofsteten und Metzerlen.

Als Abschluss tragen viele Türme ein schlichtes Satteldach (eine sogenannte «Käsbisse»). Auf ihm lässt sich auch ein grosses Rad anbringen, das die Storchenpaare gern als Basis für ihr Nest benutzen, darin ziehen sie ihre Brut auf. Anderen Türmen ist ein Helm aufgesetzt, für Zimmerleute, Dachdecker und Spengler eine besondere Herausforderung. Es gibt diesen Helm in mehr oder weniger geglückten Ausführungen. Eindrücklich ist der Spitzhelm der Heilig-Kreuz-Kirche in Binningen. Er überragt das Kirchenschiff um einiges, ist von vielen Seiten gut sichtbar und wirkt wie ein göttlicher Fingerzeig, der die Erdenbürger weist. Daneben gibt es den schlichten Glockenturm. So beim jüngsten Kirchenbau des Leimentales, der ökumenischen Kirche in Flüh. Vor 40 Jahren wurde freistehend eine einfache Betonkonstruktion errichtet. Sie trägt eine einzige Glocke, gegossen 1971, wie die Inschrift festhält, als «Mahnerin zum Frieden» während des blutigen konfessionellen Bürgerkrieges in Nordirland.

Eine architektonisch und ästhetisch eigene Sprache spricht der Dachreiter, den wir auf kleineren Kirchen und Kapellen antreffen. So am Ende des Leimentales, dort, wo der Birsig die Stadt Basel erreicht, nämlich beim St. Margarethen-Kirchlein in Binningen. Erinnert sei auch an die Pfarrkirche der heiligen Katharina in Witterswil, an die dem heiligen Martin geweihte Kapelle von Bättwil, an die Schlosskapelle in Burg oder an die St. Johannes-Kapelle in Hofstetten. Hier konnte man vor einigen Jahren noch dem betagten Glöckner, dem «Bärtel» (Albert Herman), zu- schauen, der es verstand, die beiden Glockenseile mit lockeren Händen in ihrem je eigenen Rhythmus zu ziehen, sodass sich daraus ein harmonisches Geläut ergab. Jahraus, jahrein versah er zuverlässig und stolz seine Pflicht, dreimal am Tag, um halb sechs in der Früh, mittags um elf und am Abend um sieben oder um acht Uhr, je nachdem ob es Sommer oder Winter war. Das war im letzten Jahrhundert. Tempi passati! Der elektrische und dann der elektronische Fortschritt haben dem anspruchsvollen Handwerk des Glöckners den Garaus gemacht. In der Johannes-kapelle hängen die beiden Lederriemen in den Kirchenraum, bloss noch Attrappe.

Soll die Schaufassade der Klosterkirche von Mariastein, die 1834 im «Zopfstil» dem Kirchenschiff vorgesetzt wurde, der Kategorie «Kirchtürme» zugeordnet werden? Handelt es sich nicht viel mehr um einen Glockenstuhl, wo sechs Glocken untergebracht werden konnten? Das wurde nötig, weil ein Gewittersturm die beiden Dachreiter auf den Seitenkapellen (gut sichtbar auf alten Stichen) weggerissen hatte. Der Denkmalpfleger Gottlieb Loertscher schrieb im einschlägigen Band «Kunstdenkmäler» (1957): «Die eigenartig gestreckte Fassade, die Abt Placidus [Ackermann] erstellen liess, verbindet eine klassizistische Schauwand mit einer Vorhalle und darüber aufsteigendem Glockenturm». Er verweist auf Neu-Breisach und auf Mervelier im Val Terbi (östlich von Delsberg), wo ähnliche Fassaden zu sehen sind. Auch in Rom entdeckte ich ähnliche Kirchenfassaden, von denen sich der Mariasteiner Baumeister Joh. Jakob Begele möglicherweise hat inspirieren lassen.
Erwähnt sei, dass im Leimental einige Kategorien von Kirchtürmen nicht vorkommen, wie etwa der barocke Zwiebelturm oder der romanische Vierungsturm, so wenig wir auch einen Kuppelbau antreffen.

Kirchtürme bieten sich an als Informationsträger. Daher ist an vielen eine weithin sichtbare Uhr angebracht. Am Kirchturm von Leymen sind es gleich vier, auf dreien ist sogar der Name des Uhrmachers zu lesen: «Ungerer Strasbourg». Auf der Nordseite dieses Turmes ragen übrigens noch vier Isolatoren heraus, ein Überbleibsel von damals, als der Strom noch mit Freiluftleitungen zu den Gebäuden gelangte. In Hofstetten zeigt die Uhr nicht nur die Zeit an, sondern sie trägt auch die Jahreszahlen der letzten Turmsanierungen: 1919 und 1963 (für «1995» fehlte offenbar der Platz!). Diesem Turm, der auch eine Sonnenuhr trägt und einen schönen Wappenstein von 1609, hat der frühere Gemeindepräsident von Hofsteten-Flüh, Dr. Johannes Brunner, eine eigene Schrift gewidmet: «Der Kirchturmbau von 1609 und besondere Vorkommnisse in der Zeit von 1600-1665» (Schriftenreihe zur Ortsgeschichte der Gemeinde Hofsteten-Flüh, Nr. 16. Oktober 2009).
Die Schallöffnungen, oft mit Lamellen verkleidet, lassen den Klang der Glocken vom Kirchturm in die Weite schallen. Er dient aber noch vielen anderen Zwecken. So ist im Sockelgeschoss des Turmes der Laurentiuskirche in Rodersdorf ein Aufbahrungsraum untergebracht. Dieser Kirchturm geht übrigens ins Hochmittelalter zurück und gehört mit St. Stephan in Therwil und Peter und Paul in Oberwil und der Johanneskapelle in Hofstetten zu den ganz alten Sakralbauten des Leimentals. Im Turm können aber auch Blumenvasen und Ministrantenkleider, Krippenfiguren und die langen Staubwedel und das Elektrotableau verstaut werden. Oben trägt er ein Kreuz, womit traditionellerweise auf eine katholische Kirche verwiesen wird. Oder einen Wetterhahn, wie ganz typisch auf der reformierten Kirche in Oberwil. Oder friedlich und ökumenisch das eine auf dem anderen, wie etwa in Leymen oder in Mariastein. Aus dem einfachen Grund: Der grosse Hahn auf dem Kreuz dient als Wetterfahne!

Dazu kommen neue Nutzungen. Kirchtürme werden nämlich verschiedentlich als Standort für Mobilfunkantennen eingesetzt; für die Kirchgemeinde ein willkommener finanzieller Zustupf! Die politische Dimension der Kirchtürme kam unerwartet im November 209 zum Vorschein, nach der Annahme der sogenannten Anti-Minarett-Initiative. Damals erklärte die Offene Kirche Elisabethen in Basel kurzerhand: «Der Kirchturm der Offenen Kirche Elisabethen ist auch ein Minarett.» Provozierend wirken Kirchtürme auch auf lärmempfindliche Zeitgenossen, für die das Glockengeläut am Sonntagmorgen oder der nächtliche Stundenschlag überhaupt kein Ohrenschmaus ist. Im Leimental leben wir dagegen nach wie vor ein bisschen auf dem Land: «Stangi uf em Blaue-n-obe, luegen über Fäld und Wald, ungedra tüen d'Glogge lüte, s'Heimetglütt hell wiederhallt. Zringsedum g'hörsch d'Tanne ruusche, singe-n-ihres alti Lied: Leimetaal, my schöni Heimet, wills ass Gott di treu behüet.»

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